Das Ende des Nominalstils
Kinder kommen glänzend ohne Schachtelsätze klar. Das gilt sogar für meine eigenen, obwohl sie von einer Juristenmutter abstammen. Sollten sie später Jura studieren, gelangen sie allerdings irgendwann an eine Abzweigung, an der steht: "Bitte ab hier juristentypischen Nominalstil und Schachtelsätze verwenden". Viele folgen dieser Aufforderung. Ein Grund dafür ist die Angst. Das wurde mir klar, als ich kürzlich besagten Kindern das Märchen von Schneewittchen vorlas. Dort steht bekanntlich die böse Königin vor dem Spiegel und fragt voll neidgrüner Vorahnung: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land"? Der allwissende Spiegel antwortet: Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als ihr!" Daraufhin gerät die Königin außer sich und verlangt, der Jäger solle Schneewittchen töten und ihr Herz als Beweis- und Bratenstück vorlegen. Das misslingt, genauso wie ihre anderen teuflischen Tötungspläne und am Ende stirbt die Königin selber – auf glühenden Pantoffeln tanzend.
Sprache der Diplomatie
Hätte das Drama verhindert werden können, wenn die Königin nicht ihren Spiegel, sondern ihren Anwalt gefragt hätte? Ich wage die Antwort, ja. Denn ein geübter Anwalt respektive eine Anwältin hätte die schlechte Nachricht unter Garantie diplomatischer kommuniziert und viel böses Blut vermieden. Vielleicht sogar so, dass es der Königin gar nicht aufgefallen wäre, dass Schneewittchen sie längst vom Schönheitsthron gestoßen hat. Unter Zuhilfenahme sämtlicher anwaltlicher Sprach- und Vernebelungswerkzeuge hätte die Antwort des Anwalts vielleicht so geklungen: In jüngerer Zeit entstand eine, bislang unzureichend substantiierte und daher nach gegenwärtiger richtiger Betrachtungsweise zu vernachlässigende Mindermeinung, wonach sich bei einer flüchtigen Inaugenscheinnahme des phänotypischen Erscheinungsbildes der höchsten Repräsentantin der vordersiebenbergischen Nation eine, relativ gesehen, negative Abweichungstendenz im Verhältnis zu einer aufgrund ebenso oberflächlicher Betrachtung erzielten Beurteilung der Insassin einer mit sieben zwergwüchsigen Individuen etablierten Wohngemeinschaft hintersiebenbergischer Provenienz ergibt. Die Königin hätte nichts davon verstanden, deshalb hätte sie gesagt, "danke, mit dem Thema beschäftige ich mich später", und die Sache wäre in Vergessenheit geraten. Sätze wie dieser sind kein Einzelfall. Die hier eingesetzten sprachlichen Nebelwerfer sind anwaltliche Standardgeschütze. Sie werden auf alle juristischen oder praktischen Probleme abgefeuert, die beim Anwalt auf dem Schreibtisch landen. Leider sind die sprachtaktischen Hebel nicht nur die Lösung des Problems, sondern selber das Problem. Juristen, die überzeugend sprechen und schreiben wollen, sollten sie kennen und wohldosiert anzuwenden wissen. Mit einem Satz wie dem obengenannten hätte der Anwalt mindestens vier juristentypische Macht- und Verschleierungstaktiken angewendet:- Unpersönlicher Stil
- Hohe Detaildichte bis hin zu Redundanzen oder albernen Tautologien
- Verschachtelung
- In jüngerer Zeit entstand eine Mindermeinung.
- Sie ist bislang unzureichend substantiiert und daher nach gegenwärtig richtiger Betrachtungsweise zu vernachlässigen.
- Sie besagt folgendes… .
Substantivitis und andere Krankheitsbilder
Verben wurden in der Grundschule als "Tu-Wörter" bezeichnet. Nomen als "Hauptwörter". Darin liegt der ganze Fehler. Juristen, die wichtige Dinge tun, verwenden bevorzugt Hauptwörter. Und wenn sie nicht genug haben, verwandeln sie einfach noch ein paar Verben in Nomen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Substantivierung. Aus genehmigen wird Genehmigung erteilen, aus planen wird die Planung aufstellen und so weiter. Juristen, die sich einfach und verständlich ausdrücken wollen, brauchen also nichts weiter zu tun, als die in Substantivierungen versteinerten Verben wieder aufzulösen. Darüber hinaus sollten sie noch ein paar andere stilistische, rhetorische und psychologische Mittel anzuwenden wissen, wenn sie ihren Job gut machen wollen. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Eva Engelken ist Volljuristin und Wirtschaftsjournalistin und hält Schreibseminare für Kanzleien, www.klartext-seminar.de.Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2016 M05 2
Anwaltsberuf
Verwandte Themen:- Anwaltsberuf
- Rechtsanwälte
- Sprache
Teilen