Sammelband von Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle: Mit der Lei­den­schaft des vor­letzten Wortes

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus F. Gärditz

10.09.2021

In seinem neuen Buch antwortet der Ex-BVerfG-Präsident auf Kritik an der Europarechtsprechung in seiner Amtszeit. Für Klaus Ferdinand Gärditz ein Schlüsselwerk zur Ära Voßkuhle, das auch drohende Gefahren für den Verfassungsstaat aufzeigt.

Der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Andreas Voßkuhle, hat gut ein Jahr nach seinem Ausscheiden aus diesem Amt einen Sammelband veröffentlicht, der 18 Beiträge zu grundsätzlichen Themen des Verfassungsrechts und der Verfassungstheorie bündelt. Die meisten Aufsätze wurden zwischen 2008 und 2020 bereits in Zeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht, werden hier aber zu einer stimmigen Gesamtbetrachtung neu arrangiert und durch einen programmatischen Originalbeitrag gerahmt. 

Die Themenblöcke "Europa – Demokratie – Verfassungsgerichte" scheinen nur auf den ersten Blick eher heterogen. Menschenrechte, westliches Demokratiemodell und europäische Integration sind keine zusammengewürfelten Zufälligkeiten der Rechtsgeschichte, sondern Ausdruck einer verbindenden Freiheits- und Ordnungsidee, die in den nacheinander entstandenen Beiträgen in ihrer Vielschichtigkeit präsentiert wird. 

Das besondere Profil des Verfassers ist vom früheren Amt am BVerfG geprägt. Die Themen der Aufsatzsammlung spiegeln auch die Herausforderungen und Verfassungskonflikte, mit denen das BVerfG in der Amtszeit Voßkuhles konfrontiert war. Schon angesichts der Entstehungskontexte der Beiträge (die meisten beruhen auf Vorträgen als Präsident des BVerfG) hat sich der Verfasser nie allein als Wissenschaftler, sondern auch oder sogar vornehmlich als Repräsentant des Gerichts geäußert. Das ist kein Nachteil, zumal für eine institutionelle Perspektive auf das Recht.

Das Kernanliegen des BVerfG in der Ära Voßkuhle 

Immer wieder wird illustriert, wie nicht nur Politik im demokratischen Rechtsstaat, sondern auch die praktische Verfassungsentwicklung Gegenstand relativierender Aushandlung ist, die Kraft, Geduld und nicht zuletzt überzeugende Argumente fordert. Eindeutigkeit ist selten zu haben. Auch der Weg in eine pluralistische und liberale Demokratie war nicht vorgezeichnet, er musste in Institutionen erkämpft werden, die auch andere Wege hätten gehen können. 

Verfassungsrecht schließe "das gemeinsame Ringen der Menschen in diesem Lande um die richtige Ordnung" (S. 367) ein, ist also kein Reservat der Staatsrechtslehre und des BVerfG. Das ist Häberles offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und "Verfassungspatriotismus", auf den Voßkuhle wiederholt verweist. Letzterer ist freilich vor allem Verfassungsgerichtspatriotismus und drückt vielleicht weniger staatsbürgerliches Ethos als eine justizstaatliche Erwartungshaltung aus, die sich mit der zunehmenden Technizität des Verfassungsrechts immer schwieriger befriedigen lässt. Wer sich heute etwa auf schon intuitiv wahrgenommene Grundrechte beruft, bekommt mitunter Antworten von einer Differenziertheit, die allenfalls unterkühlte Staatsrechtslehrerherzen höherschlagen lassen, für die Bürgerinnen und Bürger aber opak bleiben.

Ein Querschnittsthema Voßkuhles ist daher auch das komplexe Funktionieren der Verfassungsrechtsprechung im europäischen Verbund. Hier zeigt er sich als leidenschaftlicher Föderalist, der an die Kraft der Dezentralität und Vielfalt glaubt, einer Konfliktlösung durch Kooperation mehr vertraut als der Hierarchie des letzten Wortes. "Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem gibt es nur föderalistisch und kontextsensibel" (S. 358). Die europäische Integration, für die Voßkuhle engagiert streitet, wird als ein Projekt bottom up verstanden, welches es nicht nur gegen populistische Anfechtungen, sondern auch gegen eine Tendenz europäischer Institutionen zu verteidigen gilt, sich gegen Kritik zu immunisieren und das europäische Projekt mit technokratischer Politikdurchsetzung top down zu identifizieren. Nicht mehr als diese Offenhaltung des demokratischen Legitimations- und Verständigungsprozesses von unten nach oben war – ob man die verfassungsdogmatischen Begründungen nun für überzeugend hält oder nicht – das Kernanliegen des BVerfG in der Ära Voßkuhle, wofür das Gericht (und zuletzt auch sein ehemaliger Präsident) teils mit ätzender und bisweilen unfairer Kritik überzogen wurden.

Verfassungsgerichtsbarkeit unter Populismusdruck

Voßkuhle betont die Konnexität von Menschenrechtsidee und starker Verfassungsgerichtsbarkeit, die ihrerseits keine Selbstverständlichkeit ist, aber als verfassungspolitischer Entwicklungspfad der Nachkriegszeit eine Erfolgsgeschichte war, deren ungetrübte Fortsetzung nicht mehr selbstverständlich erscheint. Der wachsende Populismus richtet sich nicht zufällig in den meisten Staaten, in denen er grassiert, ganz gezielt gegen eine unabhängige Gerichtsbarkeit als die tragende Säule des liberalen Rechtsstaatsmodells. 

Eine "illiberale Demokratie" bedeutet zuvörderst Mehrheitsherrschaft ohne institutionalisierte Kontrolle. Wer an identitären Normalitätskonstruktionen klebt, die sich gegen Minderheiten richten, wird diejenigen Institutionen zuerst schleifen, unter deren Schutzschirm minoritäre Anliegen Gehör finden, und seien es die der Einzelnen als der atomistischen Minderheit schlechthin.

Verfassungsgerichtsbarkeit hat aber auch eine intertemporale Demokratiefunktion. Demokratie ist mehr als die Herrschaft aktueller Mehrheiten, sie ist ein in die Zukunft offener Prozess, bei dem Minderheiten(anliegen) die Chance behalten müssen, künftig Mehrheiten zu erlangen. Der offene Diskursrahmen, der hierfür notwendig ist, bedarf einer Sicherung, und hierin sieht Voßkuhle mit Recht eine Kernaufgabe der Verfassungsgerichte. Das ist einerseits sehr traditionell, andererseits aber heute aktueller denn je. 

Eine wachsende Skepsis gegenüber dem Recht und seinen Institutionen – das wird gezeigt – trägt als politisches Ferment zur Erosion der gewachsenen Rechtsstaatskultur bei. Das mag auch daran liegen, dass (Verfassungs-)Rechtsanwendung selbst immer komplexer geworden ist und rasante gesellschaftliche Veränderungen verarbeiten muss, die Gesellschaft aber zugleich der permanenten Überforderung durch Komplexität überdrüssig geworden ist. Komplexe Rechtsarbeit verschwimmt dann mit dem politischen Prozess, Eigenrationalitäten des Rechtlichen und ihr besonderer Wert geraten aus dem Blick, Gerichte werden dann von nicht wenigen nur noch als politisch wahrgenommen, bisweilen auch böswillig diskreditiert. Verfassungsgerichte müssen ihre Notwendigkeit durch überzeugende Rechtsprechung immer wieder verdeutlichen. Zu erklären, ist erkennbar auch Anliegen dieses Buches.

Bislang ist die Akzeptanz des BVerfG hierzulande zumindest metastabil. Populistische Angriffe nehmen aber zu, bezeichnenderweise gerade von denjenigen, die ihrerseits das Prozessieren vor dem Gericht als Strategie politischer Selbstvermarktung entdeckt haben und sich nicht über unfaire Behandlung durch die Richterbank beklagen können. Wer sich populistisch gerne als Stimme einer gefühlten Mehrheit inszeniert, bemerkt bisweilen nicht, wie sehr man selbst auf Minderheitenschutz angewiesen ist.

Die Einzelnen in der pluralistischen Demokratie

Neben Hugo Preuß, dem er einen in offenkundiger Sympathie verfassten Abschnitt widmet, sind Hans Kelsen und Ernst Fraenkel – also frühe Theoretiker des Pluralismus – wohl seine wichtigsten Referenzen. In der pluralistischen Ordnung des Grundgesetzes stehen nicht abstrakte Ideen, sondern die einzelnen Menschen im Mittelpunkt. Zwischen Globalisierung (nebst Gegenbewegungen) und Digitalisierung bleibt es freilich ungewiss "[w]elche Zukunft der Einzelne in dieser Lage noch vor sich hat" (S. 10). Ohne funktionierende staatliche Institutionen und ihre wirksamen Schutzversprechen sähe die Zukunft jedenfalls düster aus. Das wird verdeutlicht.

Applaus von falscher Seite?

In dem hier erstveröffentlichten Beitrag "Applaus von der 'falschen' Seite" geht Voßkuhle auf den Vorwurf ein, das BVerfG bediene mit seiner europaverfassungsrechtlichen Rechtsprechung das Argumentationsreservoir rechtsautoritärer Populisten. Die maßgebliche Verfassungsdogmatik stammt freilich aus den 1990er Jahren und damit aus einer Zeit, als die derzeitigen Problembären der EU noch nicht einmal EG-Mitglied waren. Zu einem Konflikt mit dem EuGH ist es letztlich vor allem deshalb gekommen, weil das BVerfG unionsrechtstreu seiner Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV nachkommt, damit aber der EuGH automatisch "mit im Boot" ist (S. 340).

Aktive Kommunikation im Gerichtsverbund ist unverzichtbar, aber eben auch – wie jede ehrliche Aussprache unter Partnern, die sich ernst nehmen – konfliktgeneigt. Voßkuhle legt dar, dass es unredlich ist, dem BVerfG zu unterstellen, es würde Rechtsstaatsrenegaten in Polen, Ungarn und vielleicht auch anderswo eine Steilvorlage bieten, sich unliebsamer Rechtsbindungen zu entledigen. Das BVerfG hat vom EuGH mehr Kontrolle und eine engere Rechtsbindung eingefordert, die dem gemeineuropäischen Rechtsstaatsmodell wirklich gerecht wird, während sich die europäische Rechtsstaatskrise vor allem um eine Ausschaltung unabhängiger Kontrolle dreht. Die wohlfeile Polemik gegen das BVerfG fällt zurück auf den EuGH und dessen bisweilen fragwürdige Rechtsprechungsqualität. Dass andere die gut begründeten Vorbehalte des BVerfG missbrauchen können, lässt sich nicht vermeiden (was ist schon missbrauchsresistent?), ist aber kein Grund, reale Konflikte scheinharmonisch unter den Teppich zu kehren, so lässt sich Voßkuhles überzeugende Verteidigungsrede zusammenfassen.

Die Macht des vorletzten Wortes

Gerade im kritischen Umgang mit dem Unionsrecht und seinen Funktionsbedingungen zeigt sich Voßkuhle als engagierter Europäer. Die gemeineuropäische Rechtsstaatsidee lebt von produktiven föderalen Spannungen, die zur wechselseitigen Verständigung darüber beitragen, was verbindet und was legitimerweise trennt. Der Vorrang des Unionsrechts entbindet nicht von der Verantwortung, Inhalte der Rechtsauslegung überzeugend zu rechtfertigen. Unionsorgane müssen sich inhaltlich offen mit Kritik auseinandersetzen und bessere Gründe liefern. Eine Stärke des EuGH ist das offenkundig nicht.

Am Ende sind alle Gerichte zurückgeworfen auf ihre Verantwortung gegenüber den Menschen, Entscheidungen aus inhaltlicher Überzeugung von einer juridischen Richtigkeit zu treffen: Es wäre verantwortungslos, wenn "Richterinnen und Richter eine rechtlich für zwingend erachtete inhaltliche Entscheidung nicht treffen, weil die (begründete) Gefahr besteht, dass andere Gerichte diese Entscheidung (bewusst) falsch interpretieren und als Rechtfertigung für (fragwürdige) eigene Urteile benutzen könnten. Das käme einer politisch motivierten Rechtsverweigerung gleich" (S. 343). Das ist die Macht des vorletzten Wortes. Sich hierauf zu besinnen, vermeintlich letzte Worte zu vermeiden, für Richtigkeiten zu streiten und diejenigen Spannungen aufrechtzuerhalten, die aus der Kontingenz alles Politischen erwachsen, macht die Essenz europäischer Rechtsstaatskultur aus, die allein beim EuGH ersichtlich nicht gut aufgehoben ist.

Eine nachdenkliche Verteidigungsschrift aus wachsender Sorge

Auf der Zeitachse des Erscheinens lassen die (innerhalb der Themenblöcke chronologisch geordneten) Beiträge eine Entwicklung erkennen: Themen und Semantik werden nachdenklicher, spiegeln die seit 2008 beständig gewachsenen Auseinandersetzungen, denen sich das Ordnungsmodell des liberalen Rechtsstaats zunehmend stellen muss, das in der westlichen Welt noch unangefochten war, als das BVerfG in seiner Lissabon-Entscheidung den notwendigen Resonanzraum von Demokratie zu vermessen suchte. Auseinandersetzungen sind seitdem polemischer und verbitterter geworden, haben die liberale Leichtigkeit verloren, die vielleicht nur eine deutsche Sonderkonstellation politischer Kultur seit Ende der 1990er Jahre ausmachte. Viele Akteure wirken verbraucht, Argumente durch Konflikte abgenutzt. Die taumelnden Rechtsstaaten Polen und Ungarn sind Teil unserer gemeinsamen Rechtsordnung und auch in deutschen Parlamenten haben sich die Grenzen des Sagbaren erschreckend schnell verschoben.

Immer wieder äußert Voßkuhle seine glaubwürdige Sorge um die Verletzlichkeit der Institutionen des demokratischen Rechtsstaats. Demokratie ist eine Ordnung aus Porzellan, die sich selbst in den Händen hält. Sie braucht ein öffentliches Bewusstsein um ihre Zerbrechlichkeit und Menschen, die bereit sind, für ein freiheitliches Gemeinwesen einzustehen. Das ist, wie Voßkuhle im Umgang mit Populisten und ihren einfachen Lösungsangeboten betont, mitunter mühevoll. Fragilität ist aber keine Schwäche, sondern Stärke einer Ordnung, die sich um ihrer eigenen Prämissen willen nicht ins Absolute setzen kann. Voßkuhles Buch verdeutlicht letztlich die Abhängigkeit von Demokratie und Rechtsstaat von praktischen Institutionen und deren Leistungen, eine abstrakte Freiheitsidee in konkrete Entscheidungen zu übersetzen, die vermittelt werden müssen. Voßkuhle appelliert an die Verantwortung der Rechtsanwender, "in Zeiten zunehmender soziokultureller Unsicherheit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere rechtsstaatlichen Institutionen zu stärken" (S. 217). Das setzt zunächst Selbstvergewisserung voraus, was unsere Rechtsordnung ausmacht. Das klare, ausgewogen argumentierende und engagiert erklärende Buch trägt hierzu bei.

Der Autor Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz lehrt Öffentliches Recht an der Universität Bonn. 

Das Buch: Andreas Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, Suhrkamp, Berlin 2021, 377 S., € 24,00.

Zitiervorschlag

Sammelband von Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle: Mit der Leidenschaft des vorletzten Wortes . In: Legal Tribune Online, 10.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45962/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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