Urteil des EGMR: G8-Demon­s­tranten zu Unrecht ein­ge­sperrt

Die fünftägige Ingewahrsamnahme zweier junger Männer während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm war nicht gerechtfertigt. Das entschied der EMGR in seinem am Donnerstag verkündeten Urteil. Damit wich er von den Entscheidungen der deutschen Gerichte ab. Ein Verdikt mit weitreichender Bedeutung für das Polizei- und Sicherheitsrecht, sagt Alfred Scheidler.

Die Situation war äußerst angespannt, als Sven Schwabe und M. G. am späten Abend des 3. Juni 2007 in Waldeck bei Rostock nahe der Justizvollzugsanstalt (JVA) in eine Polizeikontrolle gerieten. Nur wenige Kilometer weiter sollte drei Tage später im beschaulichen Seebad Heiligendamm bis zum 8. Juni der G8-Gipfel stattfinden, das Zusammentreffen der Regierungschefs der acht größten Industrienationen der Welt.

Schon im Vorfeld massierten sich zigtausende von Demonstranten rund um die Gegend von Heiligendamm, um sich für verschiedene Protestaktionen während des Gipfels zu rüsten. Neben friedlichen Demonstranten war auch eine große Anzahl von Personen unterwegs, die als gewaltbereit und sogar als militant einzustufen war. Bei Ausschreitungen in Rostock am Tag zuvor waren mehrere hundert Polizeibeamte verletzt worden.

In diesem Umfeld wurden Sven Schwabe und M. G., die auf einem Parkplatz neben einem PKW standen, von der Polizei aufgefordert, sich auszuweisen. Einer der beiden widersetzte sich mit körperlicher Gewalt, woraufhin beide in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden. In dem Auto fand die Polizei Transparente mit den Aufschriften "free all now" und "freedom for prisoners".

Deutsche Gerichte halten Gewahrsam für rechtmäßig

Nach richterlicher Vernehmung ordnete das Amtsgericht Rostock in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden 4. Juni die Fortdauer des polizeilichen Gewahrsams bis zum 9. Juni 2007 an. Rechtsmittel der Betroffenen hiergegen waren erfolglos, ebenso eine Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht.

So hielt das Oberlandesgericht Rostock in seinem Beschluss vom 7. Juni 2007 (OLG, Az. 3 W 83/07) die Ingewahrsamnahme als von § 55 Abs. 1 Nr. 2a und 2c des Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG-MV) gedeckt. Danach kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, "wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern."

Die Annahme, dass eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere darauf stützen, dass sie Transparente mit einer solchen Aufforderung mit sich führt (§ 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG-MV) oder dass sie bereits aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Straftaten als so genannter Störer aufgefallen ist und eine Wiederholungsgefahr besteht (vgl. Nr. 2c).

Beide Alternativen sah die Polizei als gegeben an: Die in räumlicher Nähe zur JVA Waldeck gefundenen Transparente wertete die Polizei als Aufforderung an einen unbestimmten Personenkreis, die Gefängnisse zu stürmen und dort Gefangene zu befreien. Dies würde eine Anstiftung zur Gefangenenbefreiung bedeuten, was den Tatbestand des § 120 Strafgesetzbuch entspricht. Zudem war M. G. bereits im Jahr 2002 im Zusammenhang mit den Castor-Transporten wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr auffällig geworden.

Sven Schwabe und M. G. argumentierten zwar, dass die Aufforderung "free all now" auf den Transparenten lediglich an die Polizeiführung gerichtet gewesen sei und ausdrücken sollte, dass Personen, die in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden, freizulassen seien. Das englische Verb "to free" heiße in erster Linie "freilassen". Dem hielt das OLG Rostock jedoch entgegen, dass es in einer angespannten Situation der Polizei erlaubt sein müsse, auch missverständliche Meinungskundgebungen zu unterbinden, die zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führen können.

Individualbeschwerde zum EGMR

Nachdem Sven Schwabe und M. G. vor den deutschen Gerichten gescheitert waren, riefen sie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg an. Dorthin kann sich jedermann mit einer "Individualbeschwerde" nach Art. 34 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) wenden. Auf völkerrechtlicher Ebene kann damit vor unabhängigen Organen Rechtsschutz selbst gegen seinen eigenen Heimatstaat begehrt werden.

Die beiden deutschen Beschwerdeführer machten insbesondere geltend, in ihren Rechten aus Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit) und Art. 11 EMRK (Versammlungsfreiheit) verletzt zu sein.

Sven Schwabe und M. G. dürfen sich freuen: In seinem Urteil vom 1. Dezember 2011 entschied das Straßburger Gericht, dass Deutschland beiden jeweils 3.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden zu zahlen hat, außerdem die ihnen entstanden Kosten in Höhe von jeweils über 4.000 Euro (Beschwerdenr. 8080/08 und 8577/08).

Verstoß gegen Menschenrechte

Dass die Betroffenen fünfeinhalb Tage lang eingesperrt waren, wertet der EGMR als einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK. Es hätte genügt, die Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwerdeführer daran zu hindern, andere zur Befreiung von Gefangenen anzustiften. Außerdem sieht der Gerichtshof den Gewahrsam über einen so erheblichen Zeitraum als nicht notwendig an.

Zudem sei auch Art. 11 EMRK verletzt, da die beiden Deutschen daran gehindert wurden, an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Durch das Tragen der Transparente hätten Sven Schwabe und M. G. beabsichtigt, das Sicherheitsmanagement der Polizei zu kritisieren. Die Festnahme der beiden Demonstranten allein für den Versuch, diese Transparente zu tragen, habe eine abschreckende Wirkung für die Äußerung einer solchen Meinung und schränkte die öffentliche Diskussion ein. Auch insofern hätte es als weniger einschneidende Maßnahme gereicht, die Transparente sicherzustellen.

Die Entscheidung des EGMR hat weitreichende Bedeutung. Regeln für die polizeiliche Ingewahrsamnahme gibt es nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in den anderen Bundesländern. Das Urteil aus Straßburg zeigt für die zukünftige Polizeiarbeit ganz eindeutige Grenzen auf. Polizisten werden zukünftig sehr genau prüfen müssen, ob die erwartete Straftat so schwer ist, dass sie eine Ingewahrsamnahme rechtfertigt. Und auch die Amtsrichter müssen sich umstellen: Einsperren für mehrere Tage ist nun jedenfalls passé, wenn es weniger einschneidende Maßnahmen der Gefahrenabwehr gibt.

Der Autor Dr. Alfred Scheidler ist Oberregierungsrat in Neustadt an der Waldnaab und Autor zahlreicher Publikationen zum öffentlichen Recht.

 

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Zitiervorschlag

Alfred Scheidler, Urteil des EGMR: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4949 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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